all your life you walk #39

Carlos_Cipa - Lesser_Ury_1922_Hochbahnhof_Bülowstraße

Less­er Ury: Hochbahn­hof Bülow­straße; Berlin 1922

Den Titel seines neuen Albums hat Car­los Cipa bei Kurt Tuchol­sky entliehen, die Zeile stammt aus Augen in der Großs­tadt, “a won­der­ful poem”, so Cipa, wir druck­en es hier ab. Und bebildern es mit ein­er Szene des viel vergesse­nen Malers Less­er Ury, einem der ersten, der elek­trisches Licht, Schein und Wider­schein kün­st­lerisch reflek­tiert hat.

Kurt Tuchol­sky
Augen in der Großs­tadt [1930]

Wenn du zur Arbeit gehst
am frühen Mor­gen,
wenn du am Bahn­hof stehst
mit deinen Sor­gen:
dann zeigt die Stadt
dir asphalt­glatt
im Men­schen­trichter
Mil­lio­nen Gesichter:
Zwei fremde Augen, ein kurz­er Blick,
die Braue, Pupillen, die Lid­er –
Was war das? Vielle­icht dein Lebens­glück…
vor­bei, ver­we­ht, nie wieder.

Du gehst dein Leben lang
auf tausend Straßen;
du siehst auf deinem Gang,
die dich ver­gaßen.
Ein Auge winkt,
die Seele klingt;
du hast’s gefun­den,
nur für Sekun­den…
Zwei fremde Augen, ein kurz­er Blick,
die Braue, Pupillen, die Lid­er –
Was war das? Kein Men­sch dreht die Zeit zurück…
vor­bei, ver­we­ht, nie wieder.

Du mußt auf deinem Gang
durch Städte wan­dern;
siehst einen Pulss­chlag lang
den frem­den Andern.
Es kann ein Feind sein,
es kann ein Fre­und sein,
es kann im Kampfe dein
Genosse sein.
Es sieht hinüber
und zieht vorüber…
Zwei fremde Augen, ein kurz­er Blick,
die Braue, Pupillen, die Lid­er –
Was war das? Von der großen Men­schheit ein Stück!
Vor­bei, ver­we­ht, nie wieder.

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Kurt Tuchol­sky: „Gedichte“. Her­aus­gegeben von Mary Gerold-Tuchol­sky. Rowohlt Ver­lag, Rein­bek bei Ham­burg 1992