Oliver Schulthoff — Advanced Living #15 | Ist es wirklich so, dass der Mensch im Alter in seiner bisherigen Umgebung verbleiben will, bis dass er endgültig in die Nacht hinausgeht? Diese Umgebung hat schließlich mehr zu bieten als die Nacht, zum Beispiel Wasserabflitscher in der Duschkabine oder im Bad, Bausparvertrag, Bundesligamaskottchen und Hausstaub. Wohingegen die Nacht nicht Konkretes anbietet, nur Seeligkeit, Glück, Rausch und Rebellion.
Die Nacht ermöglicht zunächst den Gedanken über das Leben und bietet erst danach die endgültige Stille. Und in dieser Stille wird man kaum Wurfzelte werfen oder an selbstaufblasenden Matratzen horchen. Natürlich erlebt man mitunter, dass einem das Gequatsche vom Tag am Abend vor dem Einschlafen zuviel wird. Alle reden auf Dich ein, alle wollen sie dir sagen, was sie so machen oder was sie von dir erwarten, dass du es machst. Fliesenboden, Raufasertapete, Aufhören zu denken. Dieses allgemeine Gequake führt directement zu den Lebensfragen: Möchte man da leben, wo eine Party stattfindet, zu der man nicht eingeladen ist, oder da, wo man selbst eine Party veranstaltet, zu der keiner kommt? Möchte man in Ruhe leben oder da, wo das Leben tobt, wo die Sonne durch den Regen scheint und sich das Wetter der Kleidung anpasst oder will man ein ausgeglichenes Leben führen, ein bisschen Paloma, ein bisschen Aroma, ein bisschen Chichi. Oder nur Chi?
Für den Fall, dass es mal wieder zu laut wird, hat die Menschheit etwas gegen Quatschlärm entwickelt: es gibt die Evolution, die durch Denken befeuert wird. Zuklappbare Ohren gegen zu viele Worte sind Ergebnis dieses Denkens unter Zeitdruck. Noch mal schlafen bevor die Nacht kommt, ist evolutionärer Anspruch. Nach Generationen mit offenen Ohren sprangen jetzt die Gene wild durch die Gegend und haben bei einzelnen Mitgliedern der Menschheit beschlossen, mit den angewachsenen Ohrläppchen einen umklappbaren Ohrverschluss zu schaffen, 100mal wirksamer als jeder Ohrstöpsel.
Das war auch gerade rechtzeitig, denn die immer lauter werdende Unterhaltung der Menschheit nimmt mitunter skurrile Formen an, wenn Jahr für Jahr eine andere Schweine‑, Hühner oder Gurkendurchfallgrippe das Kommando übernimmt. Wenn das Gegenwart und Zukunft sein soll, na dann, danke schön- Es ist aber nur die Zukunft des Tages, nicht der Nacht. Und was man auch bedenken sollte: das ist nur der helle Tag, der durch das Fernsehen am Abend simuliert wird. Man sitzt im Dunkeln und denkt: Guck mal, da am Tag sterben die Menschen.
Hieraus zu folgern dass Ambient Assisted Living in Wirklichkeit nur tagsüber existiert ist nicht ganz abwegig. Genau genommen sieht man es abends im Dunkeln nicht mehr, man spürt nur noch, dass sich der Herzschlag an die dunkler werdende Umgebung anpasst. Das liegt auch an dem Codein, welches in den Tanzschuppen nachts ausgegeben wird.
Guten Tag, gute Nachtlieder:
Ulrich Tukur Die Nacht ist nicht allein zum Schlafen da
Madelaine Peyroux Everybody’s Talking
Heiko Laux Every Thought Is Evolution
K‑H (Terre Thaemlitz) Infected
Discodein Synchronize